1 Jahr Berliner Mobilitätsgesetz – Eine Bilanz

Das Berliner Mobilitäts­gesetz ist in vielerlei Hinsicht eine gute Sache. Es ist das Ergebnis einer Bürger­initiative, die die Einführung eines Fahrrad­gesetzes forderte. Es ist somit auch das Ergebnis eines aktiven basis­demokratischen Prozesses, in dem sich erstmals eine Mehrheit der Berliner Stadt­gesellschaft öffentlich Gehör verschafft hat, die zuvor ein Viertel­jahrhundert von der Minderheit auto­besitzender Haushalte übertönt worden ist. Es weist aber vor allem in seiner Gesamtheit – eben wesentlich bedingt durch seinen partizipativen Entstehungs­prozess – über Partikular­interessen hinaus.


Mehr Lebensqualität ist das Ziel


So ist das über­geordnete Ziel, dass “die Aufenthalts­qualität des öffent­lichen Raums und die Lebens­qualität in der Stadt (…) verbessert werden“ sollen (Paragraf 4, Absatz 3). Die Ent­wicklung von einem „reinen Fahrrad­gesetz“ hin zu einem Verkehrs­mittel und auch Verkehrs­träger über­greifendem Gesetz mit Alternativ­angeboten ist dabei gerade auf jenen konfliktreichen, aber eben auch produktiven (und seine Legitimität steigernden) Aushandlungs­prozess zwischen Politik, Verwaltung und Zivil­gesellschaft zurück­zuführen.

Es finden sich multimodale (mehrere Verkehrsmittel für einen Weg) und intermodale (mehrere Verkehrs­mittel werden kombiniert) Lösungs­ansätze als Alternative zum motorisierten Individual­verkehr ebenso wie kurze Abschnitte zu Lasten­fahrrädern und dem Wirtschafts­verkehr. Auch der Infra­struktur­ausbau wird behandelt und erste Erfolge sind auf den Straßen Berlins in Form farbiger Radfahr­streifen und von protected bike lanes zu erkennen.

Ohne Vision und Konzepte im Wirtschaftsverkehr geht es nicht


Also alles auf schönem fließenden Verkehrsweg? Leider nein. Denn eine wichtige Größe wurde von Anbeginn vernachlässigt: der Wirtschafts­verkehr. Dessen heutiges Ausmaß wurde zum Datum der Erstellung des Gesetzes scheinbar schlicht unterschätzt, so dass sich keine zukunftsträchtige Betrachtung der drängenden Flächen­konflikte findet. Ebenso bedürfte es einer wesentlich stärkeren Definition von konkreten Infra­­s­truktur­maßnahmen samt zugehörigen verpflichtenden Deadlines. Speziell das Thema Lasten­rad­förderung ist zwar einerseits sinnvoll durch die Unterscheidung in drei verschiedene Bereiche (privat, gemeinschaftlich, gewerblich) aufgenommen im Gesetz. Um jedoch auf gewerblicher Ebene wirklich etwas zu bewirken, müssen auch „Premium-Räder“ eine Chance haben, gefördert zu werden – sei es durch höhere Beteiligung beim Kauf oder auch der Option einer Förderung von Leasingverträgen.

Bereits jetzt zeigen Städte und Kommunen, was für spannende Zukunfts­konzepte möglich sind. Wie z.B. Frankfurt am Main, das mit der neuerlichen Erprobung eines Lasten­tram­konzepts, welches übrigens bis in die 60er Jahre für den Transport von Gütern standgehalten hat, eine dreistufige Innen­stadt­belieferung testet. Auch das neue Konzept der BVG namens Jelbi, das Mobilitäts­hubs und eine gleich­benannte App beinhaltet, verbindet verschiedene Sharing­angebote und eLösungen mit dem öffentlichen Verkehr und ist somit ein Berliner Pionier in diesem Bereich.

Die Politik muss stärker steuern


Besonders ein Punkt sticht bei der heutigen Betrachtung des neuen Mobilitäts­gesetzes heraus: die Innovationen des Marktes sind schneller als die Steuerungs­mechanismen der Politik. Der Einsatz von neuen Fahrzeugen wie eScootern bspw. muss durch eine gesetzes­gestützte Steuerung viel effektiver an den Stadt­rand­bereich und damit für Pendler additiv zum ÖPNV angebunden werde. Nur so besteht eine tatsächliche positive Wirkung der Mikro­mobilität, deren Effekt verpufft, wenn die Angebote lediglich im Innenstadtbereich kurze Wege substituieren.

Auch die gezielte Steuerung und Gewähr­leistung einer ausreichenden und zukunfts­orientierten Sicherheit für alle Verkehrsteil­nehmerInnen aus dem Aktiven Verkehr und dem Fußverkehr hätte durch das Gesetz ein verbindliches Ziel sein können. Diese beiden Aspekte hätten Mikromobilität weniger zu einem ungewissen und für Menschen mit Unbehagen erfüllenden Thema werden lassen, sondern vielmehr zu einer Chance neuer Fort­bewegungs­möglichkeiten.

Verwaltung beschleunigen, Wissenschaft und Start-ups fördern


Die unzureichende politische Umsetzung und Steuerung von zukunfts­­orientierten Lösungen geht dabei auch auf die in der Verwaltung vor­­herrschenden langen Bearbeitungs­­zyklen zurück. Der Fahrrad­volks­entscheid basiert auf Ideen, die bereits 12 Jahre vor Erscheinen entwickelt und eingebracht worden sind. Und bis heute sind noch nicht alle Stellen der Infravelo GmbH, die sukzessive das Management von Radwegen für das Land übernehmen soll, und der 30 neuen Stellen in den Bezirks­ämtern besetzt.

Hingegen vollzieht sich besonders bei jungen, aber auch alt­­eingesessenen Unternehmen, bei Start Ups und an Universitäten ein rasanter Fortschritt auf den Gebieten der Stadt­­entwicklung, Verkehrs­­planung und technischer Lösungen. Hier müssen eine noch stärkere Vernetzung und weiter­gehende Förder­­maßnahmen ansetzen. Neue Beteiligungsplattformen wie FixMyBerlin (https://fixmyberlin.de/) weisen in dieselbe Richtung und sollten von politischer Seite unterstützt und von der Verwaltung getragen werden.

Ein Anfang ist gemacht


So bleibt denn als durchaus positives Fazit, dass die richtigen Themen adressiert und an­gestoßen worden sind. Das Gesetz ist ein Vorstoß gegen den konventionellen Transport mit Verbrenner­fahrzeugen mit einer bundesweit und vielleicht sogar länder­übergreifenden Leuchtturmfunktion. Es ist ein Projekt mit den Möglichkeiten einer aktiven Beteiligung von BürgerInnen und ein starker Beitrag für eine Planung, die statt auf einzelne Verkehrs­mittel oder Segmente auf eine – faire, sozial aus­gewogene und nachhaltige – Neu­gestaltung des urbanen Raums setzt.

Happy Birthday und danke für ein Jahr Mobilitätsgesetz! Wir freuen uns auf mehr.